„Und wo bleiben deine Bedürfnisse als Mutter bzw. diejenigen der Eltern, wenn sich alles um das Kind bzw. die Kinder dreht?“ Solche Aussagen höre ich immer wieder als Kritik an unserem Lebensstil. Und ich bleibe jedes Mal verwundert zurück, weil mich gerade der bedürfnisorientierte Lebensstil (Attachment Parenting) letztendlich wieder mit meinen Bedürfnissen in Kontakt gebracht hat. Weil ich jetzt zumindest eine Chance habe, meine Bedürfnisse bewusst zu erkennen und zu erfüllen. Doch offensichtlich geht das nicht allen so. So wie ich selbst erst zur Balance zwischen unseren Bedürfnissen finden musste, so erlebe ich auch um mich herum viele Extreme und wenig entspannte Ausgeglichenheit. Dabei ist gerade das Beachten aller Bedürfnisse wichtig für Lebensqualität in der Familie sowie für die zukünftigen (und aktuellen) Sozialkontakte der Kinder. Doch wie findet man nun die Balance zwischen den Bedürfnissen von Eltern und Kindern?

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Mein langer Weg zu meinen eigenen Bedürfnissen

Es gab eine Phase in unserem Familienleben, mit drei kleinen Räubern und ohne familiäre Hilfe, in der ich völlig überfordert war. Baby Nr. 3 war definitiv kein Anfänger-Baby und verkündete nahezu ständig und sehr eindringlich, sobald seine Bedürfnisse nicht befriedigt wurden. Zum Glück fiel es mir immer leicht Babybedürfnisse zu befriedigen. Das Kleinkind kam auch noch halbwegs zu seinem Recht, doch schon die Prinzessin musste in dieser Zeit wahnsinnig viel zurückstecken. Meine eigenen Bedürfnisse? Definitiv keine Zeit dafür!

Irgendwann war ich neben den zwei Kleinen immer stärker damit beschäftigt, unkooperatives Verhalten als Folge unserer vernachlässigten Beziehung zur Großen zu bekämpfen. In dieser Phase hab ich den bedürfnisorientierten Umgang miteinander kennen und lieben gelernt: die vernachlässigten Beziehungen blühten langsam wieder auf und alles fühlte sich so richtig an. Doch es war auch unheimlich viel Arbeit alte Verhaltensmuster aufzubrechen, an mir selbst zu arbeiten und Kinderbedürfnisse lesen und erfüllen zu lernen. Meine eigenen Bedürfnisse? Immer noch keine Zeit dafür!

Ganz langsam hat sich dieser neue Umgang miteinander dann gefestigt. Es wurde immer einfacher allen Kindern gerecht zu werden und unser Familienleben wurde fröhlicher und harmonischer. Gleichzeitig hab ich bemerkt, wie sehr der veränderte Blick auf die Kinder und deren Bedürfnisse auch mich selbst verändert hat. Und wie ich auch mir selbst aufmerksamer begegne und plötzlich unerfüllte Bedürfnisse bewusst wahrnehmen kann. Jetzt endlich kann ich sie annehmen und erfüllen. Jetzt endlich führen wir ein wirklich in alle Richtungen bedürfnisorientiertes Familienleben. Wie wir das umgesetzt habe? Und was es bewirkt hat?

„Bedürfnisorientierter Umgang“ schließt die Elternbedürfnisse mit ein

Vermutlich gibt es viele Wege hin zum Attachment Parenting und zum bedürfnisorientierten Umgang in der Familie. Doch egal, ob du nun ein kleines Baby hast oder aber familiäre Schwierigkeiten dich dorthin bringen: es geht zuerst einmal um das Erkennen und Befriedigen der Kinderbedürfnisse. Das ist völlig in Ordnung so! Das Kind kann seine Bedürfnisse nur schwer aufschieben oder sich gedulden. Und es ist im Sinne der Bindungstheorie nun einmal unsere Elternaufgabe, die kindlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Wenn wir aber an den Punkt kommen, an dem die „sichere Bindung“ unserer Kinder zu uns gedeiht und es uns immer leichter fällt, die Kinderbedürfnisse zu erkennen und zu befriedigen, dann kommt die nächste Lernaufgabe auf uns als Familie zu: die Bedürfnisse der Eltern integrieren.

Vielleicht gehörst du zu den glücklichen Menschen, die bereits achtsam mit sich selbst umgehen und sich so ihrer Bedürfnisse sehr bewusst sind. Genauso gut kann es sein, dass du diesen aufmerksamen und liebevollen Blick, den du an deinen Kindern trainieren konntest, nun schrittweise auf dich selbst ausdehnst. Wie auch immer, Erwachsene haben nun einmal Bedürfnisse, welche mit denen der Kinder nicht immer deckungsgleich sind. Manchmal scheinen wir sogar meilenweit voneinander entfernt. Doch genauso, wie sich Kinder durch ihre Bedürfnisbefriedigung („sichere Bindung“) ideal entwickeln und entfalten können, brauchen auch wir Erwachsene eine Befriedigung unserer Bedürfnisse. Der einzige wichtige Unterschied ist, dass wir Erwachsene selbst dafür verantwortlich sind im Sinne einer gesunden Selbstfürsorge unsere Bedürfnisse zu erfüllen. Nur wenn wir auch genährt werden (genaugenommen uns selbst nähren), können wir die Kinder in unserem Leben stärken.

Dazu kommt, dass ich es für einen notwendigen Lerneffekt für bedürfnisorientiert aufwachsende Kinder halte, dass bedürfnisorientiert nicht bedeutet „alles für die Kinder“. Genauso wie wir uns vom „alles für die Eltern“ der autoritären Erziehung verabschiedet haben, werden die Kinder im Laufe ihrer Kindheit auch verstehen lernen, dass alle Menschen Bedürfnisse haben. Und dass diese vielleicht nicht gleich akut aber definitiv gleichwertig sind. Respekt funktioniert einfach am Besten in beide Richtungen.

Was bedeutet das nun konkret?

Ich schreibe bewusst nicht „die Kinder müssen das am besten sofort verstehen“. Ich denke, dies ist ein Lernprozess, der seine Zeit braucht. Viel Zeit. Das Verständnis für „der andere ist nicht ich“ genauso wie „er mag noch nicht einmal unbedingt das Gleiche wie ich“ reift nur sehr langsam (dazu „Empathie – Wann versetzen sich Kinder in andere hinein?“ vom Gewünschtesten Wunschkind-Blog). Und die praktische Anwendung dieses Wissens wird ebenso erst nach und nach erlernt. Aber ich bin mir sicher, dass jedes gesunde Kind in einem entsprechenden Umfeld genau dies verstehen und verinnerlichen wird.

Was es dazu braucht sind vor allem Situationen, an denen wir genau dieses „alle Bedürfnisse beachten“ bewusst vormachen. Also nicht einfach die Kinderbedürfnisse befriedigen sondern ruhig mal erklären, dass wir einen Kompromiss machen. Oder das Kind einbeziehen, wenn eine gute Lösung für alle Bedürfnisse gesucht wird. Ein einfaches Problem wäre beispielsweise „was kochen wir?“ gemeinsam zu besprechen – jeder hat andere Wünsche aber vielleicht lässt sich ein Kompromiss finden oder einer der Wünsche auf einen anderen Zeitpunkt verschieben. Wenn wir konsequent vorleben „deine Bedürfnisse sind mir wichtig aber meine Bedürfnisse sind ebenso wichtig“, dann wird das Kind nach und nach ebenso handeln.

Letztendlich leben wir in einer Gesellschaft, in der nicht wirklich über Bedürfnisse gesprochen wird. Vielmehr wird ständig abgelenkt und ersatzbefriedigt. Wir tun also gut darin, zumindest unsere eigenen Bedürfnisse dem Kind gegenüber immer wieder zu erklären und im Gespräch darüber zu bleiben, wie einige Bedürfnisse sofort befriedigt werden können aber andere eben nur mit Verzögerung. Auch im Umgang mit anderen Menschen können wir zumindest über deren Bedürfnisse spekulieren – vielleicht sogar einfach mal nachfragen.

Strategien für elterliche Selbstfürsorge:

Und wie können wir Eltern nun so lange gut für uns sorgen, während das Kind noch nicht vollstes Verständnis dafür aufbringt, dass wir gerade etwas anderes brauchen als es selber? Ein paar Strategien für elterliche Selbstfürsorge:

Autonomes Spielen/Beschäftigtsein der Kinder fördern: wenn Kinder gut und zufrieden beschäftigt sind, haben wir Zeit für uns, die wir den Kinder nicht erst erklären und „abschwatzen“ müssen. Wie dies gefördert werden kann, sprengt allerdings den Ramen dieses Artikels. Ein Tipp sind beispielsweise offene Einladungen zum spielen oder zum kreativ sein  und Möglichkeiten zu kreativem Spiel – wie es eine Bauecke bietet.

„Freizeit mit Kind“ – dieses Konzept hat mich durch unsere etwas holprige erste Kindergartenfreie Zeit getragen. Such dir einfach Dinge, die du mit deinem Kind zusammen machen kannst und die sich nach Freizeit anfühlen: ganz egal ob es zusammen Gärtnern, Baden, den Zoo besuchen, Gesellschaftsspiele spielen oder Ausmalen ist. Hauptsache, es ist für dich entspannend und das Kind macht gerne mit. Und wenn nötig: hänge dir die Liste mit diesen Ideen an den Kühlschrank und verwirkliche jeden Tag so viele du kannst – das wirkt Wunder wenn kinderfreie Zeit weit weg ist.

Ein ähnliches Thema sind „Kraftorte“: für mich sind das Orte, wo wir uns alle wohlfühlen, entfalten und Energien auftanken können. Keine Anspannung durch „Pass auf!“, „Tu dies nicht!“ und „Mach das nicht!“ sondern einfach ankommen und wohlfühlen. Das kann der (umzäunte) Spielplatz sein, die spannende Waldlichtung, die Wiese im Park, der Strand oder auch die Wohnung von besonderen Freunden oder Verwandten. Manchmal (in eher ruhiger Stimmung) sind dies bei uns auch Buchläden, ein kinderfreundliches Café oder ein Museum. Und wer schlau ist, der schafft sich auch zuhause einen Kraftort (statt einen Ort voller „ich sollte mal…“-Verpflichtungen).

Ein weiteres Konzept, welches mir sehr hilft, ist das genaue Analysieren meines jeweiligen Bedürfnisses. Hinter „kinderfrei wäre so schön“ steckt manchmal „einfach mal nicht erster Ansprechpartner zu sein“ (mögliche Lösung: Zeiten, an denen der Papa geplant zuständig ist oder spontan übernimmt), manchmal „Ruhe“ (mögliche Lösung: Hörspiel im Nebenzimmer oder per Kopfhörer), manchmal Schlafmangel (mögliche Lösung: mal mit den Kindern ins Bett oder ein Mittagsschlaf) und manchmal „hört endlich auf zu streiten“ (mögliche Lösung: besondere Bastelmaterialien auspacken oder einen Ausflug machen – Ablenkung). Wenn ich also mein eigentliches Bedürfnis bestimmt habe, kann ich nach einer passenden Lösung für die jeweilige Situation suchen. Und so kann ich mir wirklich Gutes tun anstatt nur ritualisierte Lösungsversuche (Schokolade) abzuspulen oder von einer perfekten Lösung zu träumen.

Und das Prinzip des „Unden“ („Unden als Weg zur Konfliktlösung“ bei Familienleicht): statt „entweder oder“ versuchen wir eine „sowohl als auch“ Lösung zu finden. Wenn die Kinder Aufmerksamkeit brauchen aber ich müde bin, könnte ich im Bett ein Buch vorlesen oder ein Hörspiel anschalten. Die typische Mama ist auf dem Spielteppich eingeschlafen Situation kennst du vielleicht auch? Wenn den Kindern langweilig ist aber der Haushalt ruft, helfen sie eben mit, weil wir danach Zeit für etwas gemeinsames haben. Wenn ein Kind Mamaexklusivzeit braucht aber ich etwas erledigen muss, dann kommt es eben mit und wir reden unterwegs. Und wenn ein Kind abends nicht einschlafen kann oder mag aber ich einfach genug Kinderbespaßung hatte, können wir aufs Sofa gekuschelt eine Reise- oder Tier-Doku anschauen. Wenn du die jeweiligen Bedürfnisse einschätzen kannst, dann findest du vielleicht einen Weg sie zu verbinden. Oder dein Kind findet eine überraschende Lösung, wenn du es fragst.

Ich denke mit diesen Strategien schaffen wir es mittlerweile ganz gut, auch ohne kinderfreie Zeit viele unserer Elternbedürfnisse umzusetzen ohne die Kinderbedürfnisse zu vernachlässigen. Und das ist ein unbezahlbarer Lerneffekt für alle Beteiligten: die eigenen Bedürfnisse ebenso wie diejenigen des Gegenübers einschätzen zu können um an gemeinsamen Lösungen zu arbeiten. Wenn das in der Familie funktioniert, können wir diese Fähigkeit auch in unseren weiteren Beziehungen und Kontakten anwenden – für ein harmonisches Miteinander, in dem alle ernstgenommen werden.

Dort wo es noch nicht so gut klappt wissen wir zumindest, worüber wir im Gespräch bleiben sollten und woran wir arbeiten können. Auch darin besteht ein sinnvoller Lerneffekt. Denn letztendlich ist es in jeder Situation anders. Eine Lösung kann nur persönlich gefunden werden und das fühlt sich sehr gut an. Sehr nah und menschlich. So soll ein bedürfnisorientierter Umgang in der Familie aussehen.

Und was meinst du? Was sind deine Erfahrungen mit diesem Thema? Schreibe mir gerne einen Kommentar!

Lass uns gemeinsam ein lebenswertes Familienleben für alle gestalten!

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