Um den Beginn der Grundschulzeit herum verändern sich viele Kinder: die sogenannte Wackelzahnpubertät, Veränderungen bei Spielen, im Umgang mit Freunden und Geschwistern oder auch bei den Interessen der Kinder. Es ist eine spannende Zeit! Es ist eine Zeit, in welcher sich nicht nur das offensichtliche Verhalten, sondern auch die Bedürfnisse der Grundschulkinder verändern. Maria Montessori beschreibt genau diese veränderten Bedürfnisse der Grundschulkinder. Dieses Wissen über eine andere Art der Begleitung und Unterstützung sowie einen anderen Fokus beim Gestalten der häuslichen Umgebung kann helfen, gut mit diesen Veränderungen umzugehen.

Anregende Räume für Grundschulkinder gestalten - Titelbild mit Vorschulkind und vielen Büchern sowie einem Globus. Text über die veränderten Bedürfnisse von Grundschulkindern und wie diesen nach Montessori entsprochen werden kann.

Wenn Kinder in die Schule kommen verändert sich vieles: Veränderungen der Interessen und des Freundeskreises sind häufig ganz offensichtlich. Veränderungen im Spielverhalten lassen sich ebenfalls noch gut beobachten. Doch diese Veränderung ist weitaus tiefgreifender: das ganze Wesen des Kindes verändert sich langsam.

Es gibt verschiedene Begriffe für diese Zeit, beispielsweise Wackelzahn-Pubertät, der Übergang von ersten in´s zweite Lebensjahrsiebt (Waldorf) bzw. von der ersten in die zweite Entwicklungsphase (Montessori). Doch alle beschreiben eine deutliche Veränderung ungefähr um das 6. und 7. Lebensjahr. Um dieser Veränderung gerecht zu werden und sie gut begleiten zu können ist es hilfreich, ein paar Hintergründe zu kennen – diese möchte ich hiermit liefern.

Die folgende Beschreibung der Veränderungen in diesem Alter orientiert sich an den Beobachtungen Maria Montessoris, die Begründerin der Montessori-Pädagogik, welche ihr Leben damit verbracht hat Kinder zu beobachten, um die für ihre jeweilige Entwicklungsphase passenden Bedingungen schaffen zu können:

Nach Maria Montessori markiert das 6. Lebensjahr in etwa den Übergang von der ersten (“Kleinkindalter”) zur zweiten (“Kindheit”) Entwicklungsphase. Während jüngere Kinder die Welt über ihre Sinne erkunden, Sicherheit bei ihren Vertrauenspersonen suchen und sich an ihrer Umgebung orientieren, so erweitern die Kinder der 2. Entwicklungsstufe ihr Weltwissen immer stärker über ihren Verstand. Alles was sie gedanklich “einordnen” können, trägt zu einer inneren Ordnung und inneren Sicherheit bei. Sie sind an sozialen Beziehungen interessiert und beginnen nach Ursachen und Moral der Handlungen anderer Menschen zu fragen. Ihr räumlicher, sozialer und auch intellektueller Bewegungsspielraum wird größer. Sie beginnen “große Fragen” zu stellen und erwarten ehrliche und durchdachte Antworten. Sie wollen selber denken und gedanklich herausgefordert werden. Abstraktes Denken sowie Phantasie und Vorstellungskraft entwickeln sich rasant.

Veränderte Bedürfnisse von Grundschulkindern

Aus den beschriebenen Veränderungen ergeben sich veränderte Bedürfnisse von Kindern im Grundschulalter. Dazu zählen:

Veränderte soziale Bedürfnisse:

Freunde bekommen eine weitaus größere Bedeutung und soziale Umgangsformen werden zunehmend hinterfragt statt kopiert. Für uns Eltern bedeutet das, den Freundschaften des Kindes Bedeutung beizumessen und beispielsweise unser Zuhause noch viel selbstverständlicher und flexibler für diese zu öffnen. Wir sollten nicht im Wege stehen, sondern ermöglichen. Auch wenn Kinder dieser Altersklasse oft ein großes Bedürfnis nach sozialen Beziehungen haben und diese durchaus gerne selbstständig pflegen, so “üben” sie noch den Umgang miteinander und hinterfragen nun ganz neu Moral und Absichten. Dies können wir aktiv begleiten und zum Thema machen, gerade wenn wir unser Zuhause öffnen und aktiv am Leben des Kindes teilnehmen sowie viel miteinander sprechen.

In Bezug auf die Räume für unsere Kinder bedeutet es, sowohl Rückzugsräume für unser Kind und seine Freunde zu schaffen sowie unbedingt zu respektieren, als auch für die Familie Begegnungsräume zu schaffen. Waren bisher beispielsweise gemeinsame Mahlzeiten oft noch relativ turbulent, so können wir spätestens jetzt beginnen den Tisch schön zu decken und entspannte Tischgespräche zu führen. Und während bisher müde Kinder oft spielten oder beschäftigt werden wollten, können nun beispielsweise Familien-Spiele-Abende und ähnliches von allen Beteiligten genossen werden. Dies kann man mit einem für alle einladenden Familientisch oder Sofa-Bereich räumlich abbilden. Gesellschaftsspiele und interessante Gesprächsthemen sind eine schöne Einladung und bieten reichlich Übung im sozialen Umgang.

Veränderte intellektuelle Bedürfnisse:

Für mich völlig überraschend begannen meine beiden größeren Kinder sich in einem ähnlichen Alter für Urmenschen zu interessieren. Seitdem ich mich mit Montessoris Theorie beschäftigt habe, weiß ich, dass das Interesse für “große Fragen” (Wo kommen wir her? Welchen Platz haben wir im Universum?, …) ein ganz typisches Merkmal dieser Altersklasse ist. Leider geht das klassische Schulsystem überhaupt nicht auf diese Art der Fragen und Interessen ein, weshalb zuhause ein guter Ort dafür ist: ein paar ansprechende Bücher, vielleicht ein attraktives Wissensposter an der Wand und Offenheit für wirklich tiefgehende und philosophische Gespräche sowie die Tatsache, dass wir selbst lange nicht so viele Antworten kennen wie die Kinder bisher vielleicht gedacht haben 🙂

Ich halte es für eine gute Idee eine kleine Familienbibliothek mit spannenden Sachbüchern anzulegen, welche nicht unbedingt Kinder-Sachbücher sein müssen. Es ist einfach schön und auch gesellig, bei spontanen Interessen und Fragen ein Buch parat zu haben. Außerdem kann dann gelegentlich ein passendes Buch als Einladung zum Stöbern für das Kind bereit liegen. Wenn das Kind gerne liest oder Bücher anschaut ist es eine gute Gelegenheit, eine gemütliche Leseecke einzurichten.

Stärkeres Bedürfnis nach Selbstständigkeit:

Auch kleinere Kinder wollen bereits in vielen Bereichen selbstständig sein, doch bei Grundschulkindern erreicht dieses Bedürfnis gewissermaßen eine neue Dimension: eigenes Geld verwalten, selbst die Uhrzeit im Blick behalten und vieles mehr.

Wir können dies beispielsweise unterstützen, indem wir im Eingangsbereich gut sichtbar einen Platz für Taschen und Utensilien der Kinder schaffen wodurch sie selbstständig an diese denken können. Auch jeweils eine Wanduhr in Kinderzimmer, Wohnzimmer und Eingangsbereich sowie ein eigener Wecker leisten gute Dienste. Und ein wenig Taschen- oder Geburtstagsgeld sowie eine eigene Geldbörse und ein Sparschwein welches sich öffnen lässt, also selbstständige Entscheidungen ermöglicht, kommen dem Bedürfnis ebenfalls entgegen.

Veränderte Interessen und Hobbies:

Viele Kinder entdecken in diesem Alter Leidenschaften und Hobbies, welche eine bisher unbekannte Intensität entwickeln können. Auch hier zeigt sich oft wieder die Erweiterung ihres Lebensumfeldes. Und auch diese bieten sich oft für die Gestaltung anregender Räume an: vielleicht lässt sich ein Forscher-Regal zum Thema einrichten und entsprechende Materialien und Bücher bereit stellen. Vielleicht lässt sich das Thema auch einfach zur Dekoration nutzen, damit ein individuell passender Ort für das Kind entsteht?

Verändertes Spielverhalten:

Kleinere Kinder spielen oft, indem sie von ihrer Umgebung und ihren Spielmaterialien inspiriert werden. Ein typisches Spielverhalten wirkt dann wie eine Aneinanderreihung von einzelnen Spielideen, die jeweils auf einer konkreten Inspiration beruhen. Im Grundschulalter entwickeln Kinder dagegen häufig eine konkrete Spielidee, für welche sie dann nach passenden Spielmaterialien suchen. Teilweise werden innerhalb mehrerer Tage immer komplexere Spiellandschaften aufgebaut.

Um dies zu Ermöglichen, brauchen Kinder in diesem Alter einen Ort, an welchem sie ungestört spielen können. Das Spielmaterial darf gerne möglichst übersichtlich präsentiert werden, wobei selbstständiges Zurücksortieren oft noch nicht gut (oder sogar schlechter als früher) funktioniert. Ideal ist es, wenn die jeweiligen Spiellandschaften bei Bedarf längerfristig stehen bleiben und tagelang ergänzt und perfektioniert werden können – Kinder dieser Altersklassen entwickeln gerade die Ausdauer und das langfristige Planen und Denken um an solchen Projekten arbeiten zu können.

Veränderte Anforderungen an Spiel- und Kreativmaterial:

Da Kinder dieser Altersklasse weit weniger vom tatsächlichen Material als vielmehr von innen heraus inspiriert sind, benötigen sie eine attraktive “Basis” für ihre Ideen: beispielsweise komplexere Bauwerke zulassende Bausteine wie Kapplas oder Matador, Lego, eventuell Playmobil, Bauholz mit Werkzeug, Papier und Pappe mit möglichst hochwertigem Kreativmaterial, … Dazu kommen je nach Interessen und konkreten Ideen speziellere Materialien und Hilfsmittel.

Während kleinere Kinder von zu vielen Materialien häufig noch überfordert sind, ist es für Grundschulkinder meist ideal, wenn sie aus einer größeren Auswahl an Materialien genau das auswählen können, welches am besten zu ihrer Idee passt. Beispielsweise eben nicht einfach einen roten Stift sondern genau den Lieblingsfarbton oder nicht irgendein Papier sondern das Aquarellpapier, welches so schön die flüssige Farbe aufsaugt. Das heißt nicht, dass es nun ein riesiges Angebot an allen nur denkbaren Spiel- und Kreativmaterialien braucht, aber das Kind profitiert nun von einer übersichtlichen Auswahl an Möglichkeiten.

Typisch für dieses Alter sind weiterhin jegliche Großprojekte: Seitenweise Notizen über ein spezielles Interesse, gezeichnete Pläne in Postergröße, unzählige selbstgemachte Spielkarten und vieles mehr. Diese werden jedoch schnell unübersichtlich. Es helfen Ordnungssyteme, gut einsehbare Ablagemöglichkeiten für unvollendete Projekte und manchmal auch eine Einführung in MindMaps, Diagramme und Co um Projekte gedanklich gliedern zu können. Aber auch ein Auge für solche Großprojekte und gelegentlich die Erinnerung daran.

Weitere Anregungen

Natürlich ist es toll, wenn mit einem immer größer werdenden Radius des Kindes auch neue Anregungen wie Museen, Galerien und vieles mehr genutzt werden können. Und trotzdem bleibt das zuhause der Ort, an dem häufig sehr viel Zeit verbracht wird. Deshalb finde ich es so wichtig anregende Räume zu gestalten. Und deshalb habe ich hier noch weitere Ideen für dich gesammelt:

  • Handarbeiten bei Gelegenheit erklären und dann einen einladenden Korb mit Wolle/ Handarbeitsmaterial in Sofa-Nähe platzieren
  • Arbeiten mit Holz ermöglichen oder sogar eine kleine Werkstatt einrichten
  • Gute und vielleicht zu den aktuellen Interessen passende Bücher nicht im Bücherschrank vergessen sondern einladend präsentieren: Cover nach vorne, Lesestapel auf dem Sofatisch (vielleicht sogar eines aufgeschlagen), Bücherkorb beim Kuschelsessel oder am Bett, …
  • Eine Fragen-Wand einrichten: alle Fragen der Kinder auf Klebezettel notieren und an einer Tür oder einem Wandabschnitt “präsentieren” sowie regelmäßig gemeinsam eine der Fragen besprechen
  • Hochwertige Kreativmaterialien einladend zur Verfügung stellen
  • An Plänen beteiligen: was wollen wir nächste Woche essen – was kaufen wir ein? Was brauchen wir für den Ausflug? Was ist diese Woche wichtig? – räumlich lässt sich das beispielsweise mit einer Tafel oder ein Whiteboard lösen
  • Zeitleisten und jegliche Form von großen, attraktiven und Fragen weckenden Übersichten präsentieren sowie Materialien bereitstellen, damit die Kinder selbst welche gestalten können (Papierrolle, kräftige Marker oder Wachsmalstifte, Klebezettel, …)
  • Notiz- und Skizzenbücher sowie “Klemmbretter” griffbereit haben
  • Aktivitäten und “Werke” der Kinder mit Fotos dokumentieren und diese gut sichtbar aufhängen um zum Erinnern und Weiterdenken einzuladen
  • Kultur, Herkunft, Religion und ähnliches Identitäts-stärkendes räumlich präsentieren: beispielsweise ein Schutzengel für das Kinderzimmer, die Vase mit Familiengeschichte auf dem Tisch, Fotos an der Wand – zum Betrachten und gedanklich damit beschäftigen einladen

Ich beachte natürlich nicht alle Ideen gleichzeitig, sondern beobachte meine Kinder: sind sie zufrieden und können sich gut zuhause beschäftigen? Wirken sie inspiriert und haben vielfältige Idee? Wenn ja, ist alles prima. Aber wenn nein, dann empfinde ich es an der Zeit etwas zu verändern. Ich hoffe, dass ich dich ebenfalls mit diesen Ideen inspirieren konnte. Kommentiere gerne mit Fragen, weiteren Ideen oder einfach eine Rückmeldung, ob solche Inhalte interessant und hilfreich sind.

Lass uns gemeinsam ein lebenswertes Familienleben für alle gestalten!

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Und ein PS zum Thema Montessori:

Die Erkenntnisse und Empfehlungen Maria Montessoris beruhen auf Beobachtungen von Kinder und weniger auf pädagogischen Grundannahmen, was ich sehr sinnvoll finde. Sie beziehen sich jedoch auf den Schulkontext und gerade die Originaltexte auch auf eine Zeit, seit welcher sich einiges gerade im familiären Zusammenleben verändert hat. Deshalb gibt es für Montessori zu Hause nicht nur sehr verschiedene Herangehensweisen, es gibt auch keine Ausbildung oder ähnliches für Eltern. Das führt dazu, dass manche Montessori-Pädagogen dieses Weitertragen von aus „Original-Montessori-Sicht“ doch teilweise stark veränderten Ansichten unter dem Deckmantel Montessori nicht gerne sehen, weil es eben eigentlich etwas Neues inspiriert von Montessori ist. Ich beschäftige mich seit Jahren mit Texten, Erfahrungsberichten und mehr von aber auch über Maria Montessori und ihre Pädagogik und finde dieses Wissen im Familienalltag so hilfreich, dass ich es weitergeben möchte. Aber ich bin eben ausdrücklich weder Pädagogik noch in Montessori-Fachfrau – wer dies sucht, lese bitte woanders weiter. Und wer meine Einsichten hilfreich findet und sich selbstständig weiter informieren möchte, dem empfehle ich beispielsweise folgende Quellen:

„The Sensitive Periods of the Second Plane Child“ von Sharlie R. Burnie (Montessori for the World auf Instagram, eine Montessori-Lehrerin und Mentorin für Eltern)

„At the Heart of Montessori V: The Elementary School Child 6 – 12 years“ von Clare Healy Walls (Teil einer Buchreihe mit viel Wissen und Originalzitaten von Maria Montessori, englischsprachig)

„The Montessori Elementory Child“ ein Onlinekurs von Jasmin / 3 minutes montessori

„The Brave Learner – Finding everyday Magic in homeschool, learning, and life“ von Julie Bogart

„Montessori-Pädagogik: Einführung in Theorie und Praxis“ von Michael Klein-Landeck, Tanja Pütz (eine deutschsprachige Einführung, welche sich allerdings eher an Fachpersonal richtet)

The Kavanaugh Report (www.thekavanaughreport.com – englischsprachige Website einer sehr fachkundigen Mama, die den Montessori-Weg ihrer Familie mit 5 Kindern wunderbar dokumentiert)